Geburt in den eigenen vier Wänden

Bokholt-Hanredder. Die kleine Nina schlummert friedlich neben ihrer Mutter. Sie hat ihre Augen noch zugekniffen. Von der Welt um sie herum kennt sie noch nicht viel – denn sie ist erst vier Tage alt. Geboren wurde sie nicht in einem Krankenhaus, sondern daheim in Bokholt-Hanredder. „Sie wird uns später bestimmt schlagen, wenn sie erwachsen ist und ihren Geburtsort in ein Formular eintragen muss“, sagt Mutter Daniela Bretzke lachend. Aber sie hat es ja auch nicht anders gewollt: Bewusst entschied sich die 30-Jährige für eine Hausgeburt.

„In einem Krankenhaus habe ich sehr schlechte Erfahrungen machen müssen“, schildert die junge Mutter. Sie war schwanger, wollte sich untersuchen lassen und erlebte nicht Nachvollziehbares: „Ich wurde von einer Stelle zur anderen weitergereicht und mir wurde gesagt, ich sei gar nicht schwanger.“ Sie erlitt eine Fehlgeburt. Deshalb stand für Daniela Bretzke fest, dass für sie nur eine Hausgeburt infrage käme. Und als vor 20 Monaten Ninas Schwester Merle auf die Welt kam, lief alles ohne Komplikationen. Entsprechend war Daniela Bretzke am Mittwoch vorbereitet: „Um 3 Uhr morgens wusste ich, dass es losgeht.“ Sie informierte die Hebamme Isabell Nini aus Hamburg, die sie sich für die Geburt ausgesucht hatte, legte Wäsche zusammen, räumte ein bisschen auf. Erst gegen 5 Uhr informierte sie ihren Mann Winfried. Eine Stunde später stand die Hebamme vor der Tür. „Wir haben uns unterhalten und gewartet“, erinnert sich Daniela Bretzke. Um 13.32 Uhr erblickte die kleine Nina das Licht der Welt. Nini untersuchte Mutter und Kind abschließend, und konnte sich um 16 Uhr auf dem Heimweg nach Hamburg machen. „In der Umgebung hatten wir keine Hebamme gefunden“, erklärt der Vater. Und auch die Suche nach einem Kinderarzt erwies sich als schwierig: „Erst nach vielen Telefonaten fanden wir einen, der auch Hausbesuche macht.“
„In Deutschland liegt die Quote von Hausgeburten knapp über einem Prozent“, sagt Nini. In den Niederlanden und der Schweiz seien es 30 bis 40 Prozent. Sie gibt unumwunden zu, dass es ihr Berufsstand schwer hat. In den vergangenen zwei Jahren ist ihre Prämie für die Haftpflichtversicherung um 150 Prozent auf 4700 Euro jährlich angestiegen – viele Kolleginnen hätten unter dem Kostendruck den Beruf aufgegeben. „Dabei kostet eine Geburt im Krankenhaus die Kassen mit etwa 3400 Euro wesentlich mehr als eine Hausgeburt mit etwa 700 Euro“, so Nini. Hausgeburten seien von der Politik anscheinend nicht gewollt.
Nini wird ihrem Beruf treu bleiben. Etwa 60 Geburten betreut sie jährlich – auch im Barmstedter Umland und in Elmshorn. Selbst wenn die Kasse ihr nur 20 Kilometer Anfahrt erstattet. „Aber man kann die Mütter ja schließlich nicht allein lassen“, so die 50-Jährige, die seit 15 Jahren Hebamme ist. Auch wenn sie die Arbeit der ärzte in den Krankenhäusern schätzt, so betont sie, dass eine Geburt dort kein Garant dafür sei, dass alles gut läuft. Aber: „Wenn im Krankenhaus Komplikationen auftreten, dann heißt es nur ‚Schicksal‘. Wenn bei einer Hausgeburt etwas Unvorhergesehenes passiert, dann heißt es ’selbst schuld‘.“
Familie Bretzke ist glücklich und wohlauf. Da freut sich dann auch Nini, die jetzt am Wochenende noch einmal vorbeischauen will, um nach Kind und Mutter zu sehen. Auch wenn ihre Fahrtkosten nicht erstattet werden.

Bramstedter Zeitung, 5. Mai 2012, Andreas Dirbach

Ärzte und Pfleger: Total biegsam, total aufgerieben

Jederzeit einsatzbereit, rund um die Uhr – von Klinikärzten, Pflegern und Hebammen wird bedingungslose Flexibilität verlangt. Ihre Arbeitslast ist oft zermürbend, das Privatleben bleibt auf der Strecke. Viele werden aber auch Opfer des eigenen Helfersyndroms.
Die Hebamme: „Kinder kommen, wann sie wollen“

Ulrike Aulbach, 55, kennt die zwei Seiten des Helfersyndroms nur zu gut: „Ohne würde das System nicht funktionieren.“ Seit 18 Jahren ist sie freiberufliche Hausgeburts-Hebamme und hat schon oft darüber nachgedacht, alles hinzuschmeißen. Als sie vor zwei Jahren mit den Kräften am Ende war, nahm Aulbach ein halbes Jahr Auszeit. Drei Monate davon grübelte sie in den Pyrenäen über ihre berufliche Zukunft – und entschied, den Job weiterzumachen. Nun ist Aulbach wieder rund um die Uhr als Hebamme erreichbar. „Kinder kommen, wann sie wollen, das ist eben ein Sieben-Tage-Job“, sagt sie. Drei, vier Geburten betreut Aulbach pro Monat, bei vier weiteren assistiert sie als zweite Hebamme. Ein- oder zweimal pro Woche muss sie nachts raus, egal wie viel sie vorher gearbeitet hat oder wie viele Vorsorgeuntersuchungen und Wochenbettbetreuung der nächste Tag bringt. Etwa 850 Kindern hat sie schon auf die Welt geholfen. Kürzlich rechnete sie zum ersten Mal ihre Wochenarbeitszeit aus: 62 Stunden. Zwei Monate im Jahr nimmt Aulbach Urlaub. Dann hat sie ein geregeltes Privatleben, sonst nie. „Meine Kinder sind oft stinksauer. Zu viele Schulaufführungen habe ich schon verpasst. Zu oft musste ich an Weihnachten raus.“ Am Wochenende sind mit ihrem Lebensgefährten und den drei Kindern nur kleinere Ausflüge möglich – mit zwei Autos, damit Aulbach im Notfall schnell zu einer Patientin fahren kann. Zu ihrem 40. Geburtstag wollte sie mit Freunden eine große Party schmeißen. Kaum war die Feier richtig im Gange, klingelte ihr Handy: Noch jemand wollte in dieser Nacht Geburtstag haben. Den Abend feierten die Gäste allein. So sehr sie für ihren Beruf lebt, so skeptisch sieht Ulrike Aulbach ihre Zukunft als Hebamme. Immer mehr freie Geburtshelferinnen geben aus finanziellen Gründen auf. Die Honorare für Geburten sind niedrig, die Berufshaftpflicht-Kosten für freiberufliche Hebammen mit 3600 Euro jährlich hoch. Warum tut Ulrike Aulbach sich das an? Und arbeitet nicht fest in einer Klinik? „Es gibt für mich nichts Schöneres, als zu sehen, wie gut einer Frau eine Geburt tun kann. Wie sehr sie daran wachsen kann.“ In einer Klinik könne sie niemals arbeiten, dort werde zu viel Chemie eingesetzt.

Auszug aus: Spiegel-Online vom 14.02.2012, Jörg Römer

Hausgeburt contra Klinikentbindung

Hausgeburten können locker mit hochtechnisierten Klinikentbindungen mithalten.
Die Technikgläubigkeit hat längst auch in das Thema Geburt Einzug gehalten. Damit einher geht der Glaube, je mehr medizinische Geräte eine werdende Mutter umgeben und je mehr Überwachung und Eingriffe etwa in Form einer Verabreichung von Wirkstoffen während der Geburt stattfinden, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Baby auch heil und gesund zur Welt kommt. Verfechter dieser Glaubensrichtung verweisen auch gerne darauf, dass die Mütter- und Kindersterblichkeit in früheren Zeiten, als oft noch notgedrungen Babys zuhause oder gar in einer Scheune das Licht der Welt zum ersten Mal erblickten, recht hoch war und dass eine solch hohe Sterblichkeitsrate nach heutigen Maßstäben nicht akzeptabel ist.

Befeuert wird eine solche Sichtweise zudem durch wissenschaftliche Studien, etwa die Arbeit „Maternal and newborn outcomes in planned home birth vs planned hospital births: a metaanalysis“ („Ergebnisse einer Durchsicht von Studien, die geplante Hausgeburten und geplante Krankenhausentbindungen und die Folgen für Mütter und Neugeborene untersuchten“). Sie wurde Ende 2010 in dem Fachblatt American Journal of Obstetrics and Gynecology veröffentlicht und kam zu dem Ergebnis, dass „weniger medizinische Interventionen während einer geplanten Hausgeburt einhergehen mit einer Verdreifachung der Sterblichkeitsrate von Neugeborenen“. Die Arbeit hatte so ein Gewicht, dass sie fortan die Beweisbasis für ein wichtiges amerikanisches Gremium für Geburtshilfe und Frauenheilkunde bildete – mit der Folge, dass die Ergebnisse dieser Studie werdenden Eltern präsentiert werden als das Allerneueste, was es zum Thema Sicherheit und Risiken von Hausgeburten gibt. Wer hier kein Hintergrundwissen mitbringt, kann also praktisch nur zu einer Entscheidung kommen: Hausgeburt? Nein danke! Doch diese Schlussfolgerung ist so falsch wie tragisch. Denn verschwiegen wird dabei zum Beispiel, dass diese Studie im Grunde das Papier nicht wert ist, auf dem sie gedruckt wurde. Denn die statistische Analyse, auf der die Arbeit basiert, war schwer fehlerhaft. Zudem wurden die Ergebnisse von zitierten Arbeiten falsch dargestellt und nicht zuletzt wurde eine fehlerhafte Software verwendet. Entsprechend wurde die Studie von einschlägigen Wissenschaftlern scharf kritisiert. Die meisten Eltern bekommen von dieser Kritik natürlich nichts mit. Und so können sich nach wie vor Vorurteile und Glaubensvorstellungen über Hausgeburten halten, die mit der Realität überhaupt nichts zu tun haben. Tatsächlich ist es nämlich so, dass Hausgeburten für Mutter und Kind kein höheres Risiko darstellen als Entbindungen in einem Krankenhaus. Im Gegenteil, Studien weisen sogar in die Richtung, dass Hausgeburten die bessere Wahl sind. So untersuchte ein Forscherteam um Helena Lindgren von der Malardalen Universität im schwedischen Eskilstuna in einer Studie, die 2008 in dem Fachmagazin Acta Obstetricia et Gynecologica Scandinavica abgedruckt wurde, knapp 900 geplante Hausgeburten zwischen 1994 und 2004 und verglich diese mit einer Gruppe von etwas mehr als 11.000 so genannten niedrig Risiko („low-risk“) Krankenhausentbindungen. Untersucht wurden dabei verschiedene Parameter, etwa die Sterblichkeits- und Krankheitsrate bei Müttern und Babys oder auch die Häufigkeit von Dammrissen bei den Gebärenden. Dabei zeigte sich, dass es in beiden Gruppen praktisch keinen Unterschied gab in Bezug auf die Neugeborenensterblichkeit. Zudem gab es in beiden Gruppen keinen einzigen Fall von Müttersterblichkeit und auch keine Unterschiede in der Häufigkeit des Auftretens eines niedrigen APGAR-Scores zwischen den Babys der beiden Gruppen.

Bei diesem APGAR-Score handelt es sich um ein Punkteschema, mit dem sich der klinische Zustand von Neugeborenen standardisiert beurteilen lässt. Dieser Score (was auf Deutsch so viel wie Auswertung oder Bewertungsziffer heißt) wurde erstmals 1952 von der amerikanischen Anästhesistin Virginia Apgar vorgestellt und nach ihr benannt. Der Apgar-Score umfasst fünf Komponenten: Herzfrequenz, Atemanstrengung, Reflexauslösbarkeit, Muskeltonus und Hautfarbe. Viele Säuglinge starben „in grauer Vorzeit“ infolge von nicht diagnostizierten pränatalen Schäden, die sich nach der Geburt verschlimmerten, aber auch infolge von Mängeln oder Verletzungen während des Geburtsvorganges, wie etwa Hirnblutungen, Sauerstoffmangel oder einer Kombination solcher Schädigungen. Vor der weltweiten Anwendung des Apgar-Scores hüllte man Neugeborene einfach in eine Decke und untersuchte sie später auf der Säuglingsstation. Atmungs- und Kreislaufprobleme, die leicht hätten behandelt werden können, wenn sie sofort nach der Geburt erkannt worden wären, führten dann oft zu Komplikationen mit vielfach lebenslangen Folgen oder gar zum Tod des Kindes. Dies ist natürlich Vergangenheit, auch bei der Geburt zuhause mithilfe von Hebammen. Wie die schwedische Studie aufzeigt, gab es sogar insgesamt bei den Hausgeburten seltener Interventionen als im Krankenhaus und die Chance, dass die Frauen unversehrt aus der Geburt hervorgingen, war zuhause größer.
Dazu passt eine Geschichte, die eine Freundin von mir vor zwei Jahren erlebt hat. Sie war schwanger und konnte sich letztlich nicht zu einer Hausgeburt durchringen. Was sie aber tat: Sie bemühte sich in Hamburg um eine Entbindungsstation in einem Krankenhaus, in dem besonders wenig Kaiserschnitte durchgeführt werden. Doch das Ganze ging am Ende voll nach hinten los, nach eigenem Bekunden wurde es für sie zu einem regelrechten Alptraum. Am Nikolaustag des Jahres 2009, einem Sonntag, kam sie in das Krankenhaus, weil die Wehen sehr stark wurden und das Baby im Anmarsch schien. Relativ zu Beginn bat sie darum, in die warme Geburtswanne gelegt zu werden – doch die Schwestern verweigerten dies. Das ginge jetzt nicht und das würde sie gar nicht brauchen, so der Kommentar. Die Schwestern hatten an diesem Sonntag ohnehin Besseres zu tun, so der Eindruck meiner Freundin. Anstatt ihr den Weg in die Geburtswanne zu ermöglichen, tranken sie Tee und Kaffe und aßen genüsslich ihre Kekse und ihren Kuchen. Schließlich wurden die Wehen heftiger, woraufhin der verantwortliche Arzt entschied, dass ein Medikament verabreicht werden müsse, das die Wehen stark drosselt. Doch das Mittel war offenbar zu wirkungsvoll, denn die Wehen kamen fast zum Erliegen. Daraufhin meinte der verantwortliche Arzt, nun müsse ein Wehenbeschleuniger her. Dies geschah zu einer Zeit, als der Partner von meiner Freundin für einen kurzen Moment nicht da war, weil er sich außerhalb des Krankenhauses etwas zu Essen holte. Daher sah sich meine Freundin auch nicht in der Lage, sich gegen die Entscheidungen des Arztes effektiv zur Wehr zu setzen, denn sie selbst war einfach zu schwach und aufgewühlt, als dass sie sich hätte auch noch mit einem Arzt auseinandersetzen können. Tragischerweise schoss der Wehenbeschleuniger übers Ziel hinaus, indem er bewirkte, dass die Wehen extrem heftig wurden und praktisch alle paar Sekunden einsetzten. Für meine Freundin bedeutete dies, dass sie extreme Schmerzen bekam, die sie an den Rand des Zusammenbruchs brachten. Daraufhin hielt der behandelnde Arzt es für notwendig, eine so genannte Periduralanästhesie, kurz PDA, per Spritze ins Rückenmark zu verabreichen. Das Problem daran: Die Betäubung ging nicht, wie gewollt, nach unten in Richtung Becken und Bauchraum, sondern nach oben in Richtung Brust und Kopf. Meine Freundin fühlte sich wie gelähmt und völlig hilflos. Danach sah der verantwortliche Arzt nur noch einen Ausweg: Kaiserschnitt – der dann auch durchgeführt wurde…

Solche oder ähnliche Begebenheiten sind in Krankenhäusern alles andere als ein Einzelfall. Und vor allem nimmt die Zahl der Kaiserschnitte stark zu. Doch warum ist das so? Das fragte kürzlich etwa die Securvita-Krankenkasse, die als einzige Kasse in Deutschland z.B. die 250 € Hebammenhonorar für die Rufbereitschaft zahlt. Die Securvita zeigt sich über die Entwicklung auch deswegen verwundert, weil es „so viele Risikogeburten nicht gibt, und viele Mütter eigentlich keine Geburtsoperation wollen. Liegt es an den Kliniken?“ So kamen von den rund 664.000 Kindern, die in Deutschland 2009 geboren wurden, etwa 201.000 per Kaiserschnitt zur Welt. Das ist fast ein Drittel aller Neugeborenen. Eine „stolze“ Zahl. Und „befragt man die Eltern, die vor der Wahl standen und sich für einen Kaiserschnitt entschieden haben, wird an erster Stelle die ‚Angst ums Kind‘ genannt“, so die Securvita. „In einer Studie der Universität Bremen gaben schon 2006 von 1.339 Kaiserschnittmüttern nur zwei Prozent an, es sei ein Wunschkaiserschnitt gewesen. 60 Prozent meinten hingegen, die Operation sei ihnen vom Arzt ausdrücklich empfohlen worden.“ Fragt man in den Kliniken, so wird auch von dort überwiegend Kritik laut, ergänzt die Securvita und zitiert in diesem Zusammenhang Dr. Michael Krause, Facharzt für Geburtshilfe am Klinikum Nürnberg, mit den Worten: „Meinem Erleben nach sind mittlerweile zwei Drittel der Indikationen für einen Kaiserschnitt nicht wirklich medizinischer Art.“ Machen es sich also viele Ärzte zu leicht? „Verantwortungsvolle Gynäkologen sind frustriert, Hebammen fühlen sich zur OP-Schwester degradiert, Mütter trauern um das entgangene Geburtserleben“, fasst die Securvita die Situation zusammen.

Doch wie kommt es zu diesem Dilemma? „Ein gesellschaftliches Problem“, so sieht es Dr. Krause. Das Anspruchsdenken sei gewachsen. Was fehle, seien Zeit und Geduld. Eltern wollen alles richtig machen und sind dementsprechend schnell zu verunsichern. Es gehört nicht viel dazu, eine schwangere Frau in Panik zu versetzen und ihr das Vertrauen in den eigenen Körper und die eigene Gebärfähigkeit zu nehmen. Auch sind die Mütter heute beim ersten Kind im Schnitt älter als noch vor fünfzehn Jahren. Auch das scheint eine Rolle zu spielen bei der Entscheidung für oder gegen einen Kaiserschnitt. Mit zunehmendem Alter steigt das Sicherheitsbedürfnis. Und genau diese Sicherheit suggeriert zunehmend, wenn auch alle medizinischen Fakten dagegen sprechen, die Kaiserschnittgeburt. „Mit den Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung ist außerdem die Zahl der Mehrlingsgeburten angestiegen“, so die Securvita. „Mehr Risikoschwangere, mehr Fortschritte in der Frühgeborenenmedizin treiben die Kaiserschnittrate in die Höhe. Aus Sicht von Krankenhausökonomen mag es auch eine Rolle spielen, dass Kaiserschnitte viel besser zu planen sind, freitags oder montags zum Beispiel statt am Wochenende.“

Hebammen dagegen haben eine andere Sicht der Dinge. Natürliche Geburten in vertrauter Umgebung seien für Mutter und Kind fast immer vorzuziehen. „Schwangerschaft ist keine Krankheit“, betont die Initiative „Hebammen für Deutschland“. Sie sehen ihre Aufgabe darin, Müttern bei dem einzigartigen Erlebnis der Geburt zu helfen. Das kann bei Hausgeburten sein, in einem Geburtshaus oder auch in der Form, dass Hebammen „ihre“ werdenden Mütter schon während der Schwangerschaft betreuen und sie dann bei der Geburt in einer Klinik begleiten. Allerdings macht das Gesundheitswesen den Hebammen die Ausübung ihres Berufes immer schwerer. Die Honorare für die Geburtshilfe sind zu gering. Die Versicherungsprämien für die Berufshaftpflicht sind im vergangenen Jahr so stark gestiegen, dass viele freiberufliche Hebammen die Geburtshilfe aufgegeben haben. Extra-Honorare für besondere Aufwendungen wie die Rufbereitschaft zahlt kaum eine Krankenkasse – außer eben die Securvita. Wie schlecht es um die Hebammen hierzulande bestellt ist, zeigt sich auch daran, dass sie mit einem Stundenlohn von rund 7,50 € krass unterbezahlt sind und viele von ihnen somit ums überleben kämpfen. Monat für Monat geben Dutzende auf, Schwangere finden immer seltener eine Hebamme und noch seltener eine in erreichbarer Nähe, berichtet aktuell der Verein Hebammen für Deutschland e.V.. „Doch all das stört den Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung, kurz GKV, wenig. In den sich zäh dahin schleppenden Vergütungsverhandlungen will er die Hebammen mit einem Plus von 1,98 Prozent abspeisen“, so Hebammen für Deutschland e.V. in einer Mitteilung von Anfang Dezember. Dabei würden diese 1,98 Prozent nicht einmal die aktuelle Preissteigerungsrate ausgleichen. Zumal ja auch die Prämien zur Berufshaftpflicht für Hebammen binnen Jahresfrist um satte 56 Prozent gestiegen sind. Erschwerend komme hinzu, so Hebammen für Deutschland e.V., dass die GKV die geltende Betriebskostenpauschale der Geburtshäuser sogar um 30 Prozent gekürzt sehen will. Die Vertreterinnen der Hebammenverbände haben daraufhin am 30. November die Verhandlungsrunde demonstrativ verlassen.

Haarsträubende Zustände, wenn man zum Beispiel auch bedenkt, dass selbst die Frau des Chefs der Gynäkologie am Universitätskrankenhaus Hamburg ihre beiden Kinder im Geburtshaus, in dem es nur Hebammen und keinerlei Ärzte gibt und das somit praktisch dieselbe Atmosphäre bietet wie eine Hausgeburt, zur Welt gebracht hat. Wer sich mit Frauen bzw. Müttern unterhält, die sich für die Geburt in einem Geburtshaus oder für eine Hausgeburt entschieden haben, der trifft in der Regel auf Personen, die hochzufrieden waren mit diesem Erlebnis. So etwa auch meine Frau Maria, die unseren Sohn Liam – ihr erstes Kind – im September 2009 bei uns zuhause gebar. Dabei war sie in der Zeit, bevor sie schwanger wurde, noch der Auffassung, dass Kinder besser im Krankenhaus das Licht der Welt erblicken sollten. Es sei mehr oder weniger verantwortungslos, ein Kind ohne ärztliche Versorgung zur Welt bringen zu wollen, so der Gedanke, der bei ihr im Kopf festsaß. Eine Hausgeburt kam für sie daher nicht in Frage. Als sie aber Ende 2008 schwanger wurde, begann sie, über die unterschiedlichen Formen von Geburt zu lesen. Sie interessierte sich plötzlich sehr dafür, wie Frauen ihre Kinder zur Welt bringen und was es heißt, ein Kind zu gebären. Sie bekam ein Buch in die Hände, das ihre Auffassung von Geburt und vor allem von ihrer Verantwortung als zukünftige Gebärende komplett veränderte. Titel des Buches: „Das Leben kennt den Weg“; Autorin: Manja Herlt. Beim Lesen dieses Buches und weiteren Büchern zum Thema natürliche Geburt wurde ihr gewahr, wie wichtig es ist, die Verantwortung für die Geburt ihres Kindes selbst zu tragen. Ihr wurde auch klar, dass eine Geburt etwas Natürliches ist und keine Krankheit, die man im Krankenhaus behandeln muss. Sie wollte das Erlebnis der Geburt als etwas Besonderes erleben, ohne sich in „wildfremde“ Hände begeben zu müssen. Und dieses einzigartige Erlebnis sollte in einer vertrauten Umgebung mit vertrauten Menschen stattfinden. Maria entschied, eine erfahrene Hausgeburtshebamme aufzusuchen, und sie sprach mit Frauen, die bereits eine Hausgeburt hatten. Die Erfahrungen dieser Frauen wurden als etwas ganz Besonderes beschrieben. Maria ging bei der monatlichen Kontrolle abwechselnd zu ihrem Gynäkologen und ihrer Hebamme. Schnell stellte sich bei ihr der Eindruck ein, dass der Arzt sehr nüchtern war und eher distanziert. Ganz anders die Hebamme, die sehr viel Einfühlungsvermögen mitbrachte und zum Beispiel regelmäßig ihren Bauch abtastete, um zu spüren, wie das Baby liegt und sich bewegt – etwas, das ihr Gynäkologe praktisch nie getan hat… Maria erlebte ihre Hebamme als jemanden, die nicht nur viel Fachwissen mitbrachte, sondern auch mit viel Intuition arbeitete. Die Hebamme gab ihr viel Vertrauen und Sicherheit und vor allem auch wichtige Hinweise, die sie vom Arzt nicht bekam. So bemerkte die Hebamme zu einem späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft beim Abtasten des Bauches, dass das Baby möglicherweise ein so genannter „Sterngucker“ werden könnte. Das würde bedeuten, dass das Baby mit dem Gesicht in Richtung Himmel zur Welt käme (während die Mutter auf dem Rücken liegt). Dieser Umstand, so die Hebamme, könnte die Geburt für die Mutter und das Baby etwas in die Länge ziehen und vor allem noch mehr Schmerzen verursachen, als ohnehin zu erwarten seien. Daraufhin empfahl sie Maria, Wasser-Shiatsu zu machen. Dabei handelt es sich um eine Art Massage im Wasser, die von ausgebildeten Hebammen durchgeführt wird und neben einer Tiefenentspannung, die ihres Gleichen sucht, etwa auch erreichen soll, dass das Baby im Bauch, kurz vor der Geburt, in die richtige Position findet. Zudem gab die Hebamme den Ratschlag, einmal einen Osteopathen aufzusuchen. Maria entschied, zunächst den Osteopathen aufzusuchen. Den Besuch empfand sie als sehr angenehm. Etwa eine Stunde nach der osteopathischen Behandlung hatte sie plötzlich das Gefühl, dass sich das Baby im Bauch in die richtige Position gedreht hat. Um sicher zu gehen, ob dies auch wirklich der Fall war, rief sie von zuhause gleich ihre Hebamme an und bat sie, zu ihr zu kommen, um festzustellen, ob sich wirklich etwas beim Baby bzw. an dessen Position getan hatte. Und in der Tat: Das Baby hatte sich in die richtige Stellung gebracht und blieb in dieser Position auch bis zur Geburt. Einige Tage später hatte sie einen Termin bei den Hebammen, die Wasser-Shiatsu machen. Auch diese Erfahrung erlebte Maria als etwas Einzigartiges. Dabei wird man von der Hebamme in einem sehr angenehm warmen Schwimmbecken rund 60 Minuten auf dem Rücken „schwebend“ sanft und langsam durch das Wasser gezogen und dabei massiert. Maria erzählt, dass sich das Baby in ihrem Bauch während der Massage viel bewegt hat und sehr aktiv war. Und trotzdem erreichte Maria einen Zustand tiefster Entspannung, die sie in der Art noch nie erlebt hatte. Die Ratschläge ihrer Hebamme waren für sie von immanenter Bedeutung für die Geburtsvorbereitung.
Die Geburt zuhause erlebte Maria als etwas absolut Normales. Sie hatte schon den ganzen Tag Wehen, die sie dennoch nicht von ihren alltäglichen Aufgaben abhielten. Beim Mittagessen mit einer Freundin im Café merkte sie, dass die Wehen stärker wurden. Nach dem Einkauf ging sie wieder nach Hause, telefonierte mit ihrer Schwester, die später am Abend spontan aus dem thüringischen Erfurt angereist kam, um sie bei der Geburt zu begleiten. Die Tage davor hatten wir zusammen alles für die Geburt vorbereitet. Mit einer Liste von der Hebamme ausgestattet, wurden bestimmte Sachen besorgt und unter anderem ein Geburtsbecken mitten im Wohnzimmer aufgebaut. Maria wollte die Option haben, im Wasser zu gebären. Gegen 23 Uhr wurden die Schmerzen schließlich immer heftiger und deuteten darauf hin, dass es mit der Geburtsarbeit losgehen würde. Die Schwester von Maria war bereits kurz zuvor angekommen und half Maria mit Massagen und Atemübungen, um die Schmerzen besser zu steuern. Kurz davor rief Maria ihre Hebamme an und informierte sie darüber, dass die Schmerzen stärker werden und die Geburtsarbeit beginnt. Ihre Hebamme meinte, sie soll sie anrufen, sobald sie das Gefühl hat, dass sie sie braucht. Dies geschah gegen 2.30 Uhr nachts. Eine halbe Stunde später war die Hebamme vor Ort und begleitete Maria die ganze Zeit. Gegen 6 Uhr in der Früh stieß die zweite Hebamme hinzu, die der ersten Hebamme assistierte. Die Atmosphäre zuhause war sehr ruhig und intim. Maria wollte nur Kerzenlicht haben, kein künstliches Licht, weil sie es als sehr störend empfand. Die Geburtsarbeit verlief nach den Vorstellungen von Maria. Ihre Hebamme bestimmte nicht, was sie zu tun hat, sondern gab ihr Ratschläge, die ihr halfen, die Geduld und das Selbstvertrauen zu bewahren. Sie spürte keinen Druck, sondern sie wurde gestärkt und sanft durch die Geburt begleitet. Von 2 Uhr nachts bis ca. 7.30 Uhr lag Maria in der mit lauwarmem Wasser gefüllten Geburtswanne. Die Geburt von Liam ereignete sich um kurz vor 9 Uhr morgens. Doch nicht wie geplant in der Geburtswanne, sondern im Bad in der Hocke. Die Hausgeburt empfand sie als die perfekte Vollendung einer langen und glücklichen Schwangerschaft. Zuhause gaben einem die Hebammen absolute Sicherheit und vor allem auch alle Zeit der Welt. Im Krankenhaus, so die Hebamme, hätte Maria bestimmt Wehenbeschleuniger und eine PDA bekommen, doch das war zuhause gar nicht notwendig, da niemand auf irgendeine Weise Druck ausübte. Schließlich lag Maria in ihrem gemütlichen Zuhause mit Liam im Arm in ihrem Bett – umgeben von Menschen und einer Umgebung, die ihr höchst vertraut waren.

Diese hohe Zufriedenheit, die Frauen bei einer Hausgeburt spüren, verwundert nicht, wenn man sich weitere Studien anschaut, die Hausgeburten mit Klinikentbindungen verglichen haben. So erschien 2009 die niederländische Studie „Perinatal mortality and morbidity in a nationwide cohort of 529.688 low-risk planned home and hospital births”. Hier wurden insgesamt knapp 530.000 „Low-Risk“-Geburten im Krankenhaus und zuhause miteinander verglichen, wobei mehr als die Hälfte davon Hausgeburten waren. Dabei hatten die Forscher durch Geburtsregister einen lückenlosen Zugriff auf die Daten aller Geburten in den Niederlanden. „Diese Arbeit ist mit 321.307 begonnenen Hausgeburten die größte Erhebung zur Sicherheit der Hausgeburt, die jemals durchgeführt worden ist“, betonen die Hebamme und Journalistin Martina Elrich und die Ärztin Ute Taschner in einem Beitrag für die Zeitschrift. „Diese Untersuchung ist sehr aussagekräftig, und durch die große Fallzahl konnten auch Unterschiede bei seltenen Komplikationen erfasst werden.“ Ergebnis der Studie: Zwischen Hausgeburten und Klinikentbindungen gab es praktisch keine Unterschiede, was die Risiken angeht. Gleich waren etwa die Sterblichkeit während der Geburt, innerhalb von 24 Stunden und innerhalb von sieben Tagen sowie die Zahl der Einweisungen auf die Neugeborenen-Intensivstation. Die Autoren schlussfolgern: „Unsere Studie zeigt, das eine geplante Hausgeburt das Risiko, dass das Ungeborene bei der Geburt oder in den Tagen danach stirbt oder schwer erkrankt, nicht erhöht. Eine Voraussetzung ist, dass das Versorgungssystem für die Mutter gut ausgebildete Hebammen bereit hält und [für den Fall der Fälle] gute Transportmöglichkeiten [in ein Krankenhaus] zur Verfügung stehen.“ Diese Voraussetzungen sind in entwickelten Industrieländern wie den Niederlanden oder auch Deutschland längst gegeben.
Dass Hausgeburten Klinikentbindungen sogar überlegen sein können, zeigt derweil eine Studie aus Kanada. Titel der Arbeit: „Outcomes of planned home birth with registered midwife versus planned hospital birth with midwife or physician.” Dabei wurden 2.800 Hausgeburten mit Hebammenbetreuung verglichen mit 4.700 Krankenhausgeburten, die von Hebammen begleitet wurden, und 5.300 Klinikentbindungen, die von Ärzten betreut wurden. Ergebnis hier: Die Rate so genannter perinataler Todesfälle – also von Sterbefällen von Babys bei der Geburt oder in den Tagen danach – war in allen drei Gruppen sehr gering, bei Geburten mit einem Mediziner im Krankenhaus (0,64 Prozent) allerdings fast doppelt so hoch wie bei Hausgeburten, die von Hebammen begleitet wurden (0,35 Prozent). Hebammengeburten in Kliniken erreichten einen Wert dazwischen (0,57 Prozent). Dieses Ergebnis ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die Untersuchung auch aufzeigte, dass Frauen, die sich für eine Hausgeburt entschieden hatten, viel seltener Eingriffe in den Geburtsablauf erlebten bzw. über sich ergehen lassen mussten. So wurde zuhause das Kind nur bei 13,6 Prozent aller Geburten elektronisch überwacht, im Krankenhaus unter Hebammenaufsicht zu 41,9 Prozent und bei ärztlicher Begleitung in einer Klinik bei fast 80 Prozent der Fälle. Wehenunterstützende Maßnahmen wurden bei Hausgeburten in knapp 24 Prozent der Fälle angewendet, im Krankenhaus von Hebammen zu rund 40 Prozent und bei den Klinikmedizinern bei 50 Prozent der Geburten. Darüber hinaus war die Rate von vaginalen Spontangeburten bei Frauen, die sich für eine Hausgeburt mit Hebammen entschieden hatten, am höchsten (knapp 90 Prozent im Vergleich zu 82 Prozent bei den Frauen, die in einer Klinik von Hebammen betreut wurden, und 75 Prozent bei den werdenden Müttern, die unter ärztlicher Aufsicht im Krankenhaus gebaren). Insgesamt war dabei die Rate an mütterlichen Komplikationen bei Hausgeburten niedriger, als bei Klinikentbindungen. Weiterhin hatten die Kinder, die per Hausgeburt das Licht der Welt erblickten, seltener Geburtstraumata und sie mussten seltener reanimiert werden und benötigten seltener Sauerstoffgaben innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Geburt. „Frauen, die ihre Entbindung zuhause planten, hatten somit für alle gemessenen geburtshilflichen Interventionen und sonstigen Outcome-Parameter, wie Geburtsverletzungen der Mutter und kindliche Todesfälle, ein geringeres Risiko als jene Frauen, die sich für eine Geburt im Krankenhaus entschieden hatten“, so die Hebamme und Journalistin Eirich und die Ärztin Taschner. Eirichs und Taschners Fazit: „Der guten Auswahl wie auch der intensiven und individuellen Betreuung im Vorfeld ist sicherlich zu verdanken, dass die Hausgeburten trotz teilweise weiter Wegstrecken zur nächsten Kaiserschnittmöglichkeit locker mit den hoch gerüsteten Kreißsälen mithalten können, von der Zufriedenheit ganz zu schweigen. Gegen eine Hausgeburt spricht wenig, dafür ganz viel, wenn die Studienergebnisse nicht nur in der Fachwelt, sondern auch in der Gesellschaft angekommen sind.“

Einen Hoffnungsschimmer, dass es in nicht allzu ferner Zukunft dazu auch tatsächlich kommen wird, ist die Vergabe des Alternativen Nobelpreises (offiziell Right Livelihood Awards) an die Amerikanerin Ina May Gaskin. Die Hebamme erhält den vom deutschschwedischen Philosophen und ökonomen Jakob von Uexküll gestifteten Preis am 9. Dezember verliehen. Die 71-jährige wird dafür geehrt, dass sie über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten Meilensteine zur Förderung der natürlichen Geburt und der Hebammenausbildung gesetzt hat. Dem Komitee zufolge wird die 1940 geborene Ina May Gaskin häufig als die „berühmteste Hebamme der Welt” bezeichnet, schreibt etwa das Ärzteblatt. Als Pionierin eines uralten, in ihrem Land vom Aussterben bedrohten Berufes vereine sie wissenschaftliche Analyse mit weitreichender Erfahrung in der Praktizierung natürlicher Medizin. „Ina May Gaskin ist ein Vorbild für Hebammen, die es wagten, andere Wege zu gehen im Versuch, Geburtshilfe menschlicher zu gestalten und die den Frauen die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, welche Art der Entbindung für sie persönlich die richtige ist“, heißt es von der Preisverleihenden Stiftung. Das Zentrum von Gaskins Arbeit war ein Geburtshaus auf einer Farm in Tennessee. Die Farm hatte sie 1971 als Mitglied einer Hippiekommune zusammen mit anderen jungen Familien und ihrem Lebenspartner Steven gegründet. Im Oktober 1970 war ihre Hippie-Karawane in Kalifornien auf der Suche nach einem geeigneten Ort aufgebrochen. Auf der monatelangen Reise quer durch die USA kamen auch immer wieder Babies zur Welt – und Gaskin war voll in ihrem Element. Dabei war ihre erste eigene Entbindung vier Jahre zuvor nicht locker und leicht verlaufen. Ihr betreuender Arzt riet ihr ohne Umschweife zu einer Zangengeburt unter Schmerzmitteleinsatz – das war gängige Praxis damals und seinen Worten zufolge sicherer als eine natürliche Geburt. Ein Ereignis, das für das Leben der jungen Literaturstudentin aus Iowa wegweisend wurde: „Diese ganze Erfahrung öffnete mir die Augen und ich war sicher, dass der weibliche Körper besser reagieren kann als es meinem Geburtshelfer beigebracht worden war.“ Fortan stemmte sie sich gegen die etablierten Standards und die Angstbesessenheit in amerikanischen Krankenhäusern unter Einsatz von Kaiserschnitt, Hightech und Medikamenten. Stattdessen stellte sie andere Fragen und fand wichtige Antworten. Im Februar 1976 erschütterte ein schweres Erdbeben Guatemala, 23.000 Menschen starben und Gaskin reiste in das zentralamerikanische Land, um zu helfen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie von uralten Geburtstechniken einheimischer Hebammen. Einer dieser Kniffe ist heute im internationalen Klinikalltag mit ihrem Namen verbunden. Das „Gaskin Manöver“, auch Vierfüßlerstand genannt, wird heute international gelehrt und ändert bei Komplikationen die Position des Beckens der Gebärenden, was einer verkeilten Baby-Schulter im Geburtskanal ermöglicht, sich aus der Klemme zu befreien. Letztlich sollen damit langwierige Wehen und routinemäßige Dammschnitte vermieden sowie Steiß- und Zwillingsgeburten erfolgreich entbunden werden. Laut der Stiftung, die ihr den Alternativen Nobelpreis verleiht, half Gaskin bei etwa 1.200 natürlichen Geburten, gemeinsam mit ihren Partnerinnen sogar bei mehr als 3000. „Dank ihrer Arbeit und Fachkompetenz wurde sie zur Pionierin der Hebammenausbildung und bewahrte dabei ein einzigartiges Wissen, das in einer Welt technisch dominierter Geburten größtenteils vergessen war“, so das Komitee.

In den USA, in denen es keine staatlich geregelte Ausbildung für Hebammen gibt, bewahrt und lehrt sie in ihrem Geburtshilfezentrum in Tennessee das Wissen über die sanfte Geburt. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die Frauensterblichkeit in der Schwangerschaft und bei der Geburt Schätzungen zufolge in den USA etwa doppelt so hoch ist wie in Deutschland. „Gute Anfänge machen einen positiven Unterschied in der Welt, und deshalb ist es aller Mühe wert, wenn wir Müttern und Säuglingen die bestmögliche Fürsorge in dieser enorm richtunggebenden Lebensphase angedeihen lassen“, sagt Gaskin.

WA-aktuell Heft 73, Jan./Feb. 2012, Torsten Engelbrecht